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Es gibt zwei turnusmäßige Befragungen zum Thema Werte, die es in den Fokus der Leitmedien geschafft haben: Der „Engagement-Index“ des Beratungsunternehmen Gallup, der alle zwei Jahre aufzeigt, wie es um die emotionale Bindung von Mitarbeitenden zu ihren Brötchengebern steht (meist übrigens nicht so gut). Und die jährliche Führungskräftebefragung des Vereins „Wertekommission“. Die aktuelle Auflage zeichnet ein ernüchterndes Bild: Den meisten Managern gehen moralische Fragen am Allerwertesten vorbei! Bei knapp 18 Prozent der gut 550 Befragten machten die Autoren sogar eine „zynische Grundhaltung“ aus, die ein „strikt eigennutzorientiertes Verhalten von Menschen und Unternehmen“ unterstellt. So weit, so erschütternd.

Die Blüte nährt sich aus der Wurzel

Doch es gibt auch eine andere Seite der Befragung. Eine Seite, in der die Spitzenführungskräfte Vertrauen, Verantwortung, Integrität, Respekt, Nachhaltigkeit und Mut als die wichtigsten Kernwerte benennen. „Ja was denn nun?“, mögen Sie fragen. Ich kann Ihre Irritation gut verstehen, denn sie hat sich auch bei mir eingestellt. Beim Reflektieren der Studienergebnisse hat mir ein Modell geholfen, das ich Ihnen ans Herz legen möchte: Das „Seerosen-Modell“ des amerikanischen Sozialwissenschaftlers und Organisationspsychologen Edgar H. Schein. Es ist ein Denkmodell zur Erkenntnisbildung, das beschreibt, wie Kultur in Unternehmen aufgebaut ist, was sie leitet, was sie nährt, worauf sie sich gründet.

Auf der (Wasser-)oberfläche sehen wir, wie sich Menschen verhalten, wie sie interagieren und kommunizieren. Unterhalb des Wasserspiegels begegnen uns Normen aller Art: Ungeschriebene Gesetze, was darf man und was nicht? Was wird sanktioniert, gebilligt, belächelt, gefördert? In der untersten Ebene, also im festen Boden des Gewässers, sind die Werte verwurzelt, all das, was wir Kommunikatoren gerne auch als Basis unserer Glaubenssätze und tiefen Überzeugungen bezeichnen. Heißt: Nur wer von der Wasseroberfläche zum Wurzelwerk der Seerose vordringt, kann das komplette „System Kultur“ verstehen – so paradox und komplex es auch sein mag.

In einem unbekannten Land …

Für mich sind die Ergebnisse der Studie vor dem Hintergrund der gigantischen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und persönlichen Herausforderungen unserer Zeit vor allem Ausdruck einer weltumspannenden Irritation und Neuorientierung auf allen erdenklichen Gebieten. Ein Phänomen namens Wandel hat uns gepackt – und schüttelt uns kräftig durch. Ganze Gesellschaften leben irgendwo im „Dazwischen“, haben die alten Gefilde verlassen und sind zu neuen Ufern aufgebrochen – wo immer diese liegen mögen. Denn: Wohin uns die riesige Eisscholle bringt, können wir allenfalls erahnen oder vermuten. Und wann wir den neuen Heimathafen erreichen werden, ist ebenfalls völlig ungewiss. Offen bleibt: Was passiert bei alledem mit unseren Wurzeln? Klar ist hingegen: Ohne Werte und Moral wird es auch am Ziel nicht gehen!